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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.23 (1897)
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Mittheilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins.

Nr. 14.

Scharte in dem vom Kleinen Buchstein herüberziehenden Grat
an. Zuerst giengen Dr. Pfannl und ich, angeseilt, dannMaisch-
berger und Dr. Wessely, und am Schlüsse Keidel und
Goudet, ebenfalls angeseilt. Nachdem wir in der Scharte ge¬
rastet hatten, wurde die Tour in der bisherigen Weise, wieder
in drei getrennten Partien an je einem Seil, fortgesetzt. Den
Schluss der Kletterei an dem Grate, kurz unter dem Plateaurand,
bildet ein nahezu horizontales, bequemes Band, von dem man
mit einem weiten Schritt das untere Ende einer etwa 56 m.
hohen, brüchigen Rinne erreicht, die unschwierig auf die Grat¬
höhe und leicht gangbares, erdiges Terrain führt. Die beiden
ersten Partien hatten bereits die ganze Kletterei hinter sich;
Pf annl und ich warteten hier auf die ganz nahe dritte Partie,
während Maischberger und Wessely bereits zum Plateau
hinaufgestiegen waren. Keidel und Goudet, die nach Passieren
des Bandes unseren Blicken durch eine vortretende Gratrippe
entzogen wurden, waren noch mit Traverse und Rinne be¬
schäftigt. Keidel war schon ziemlich an dem oberen Ende der
Rinne und wollte Goudet, um ihn nachkommen zu lassen
(Goudet hatte, als wir ihn zuletzt sahen, in der Mitte des
Bandes gestanden), mittelst des Seiles an einem im oberen
Theile der Rinne vorspringenden Block versichern. Als er jedoch
sah, dass der Block locker war, stieg er weiter hinauf zur
Grathöhe, um seinen Nachmann von oben zu sichern.

Da vernahmen wir plötzlich, als Keidel eben auf dem
Grate auftauchte, furchtbares Steingepolter, einen Schrei, und im
nächsten Moment flogen die Beiden schon aus der Rinne hinaus
auf die darunter befindlichen Platten, über welche sie etwa
80 m. hinunterstürzten. Der früher erwähnte Block in der
Rinne war losgegangen, hatte den mittlerweile offenbar in die
Rinne gelangten Goudet entweder getroffen oder zu einem
Ausweichen, das einen Sturz herbeiführte, veranlasst, und
Keidel, der noch mit Klettern beschäftigt war, wurde aus den
Felsen herausgerissen, obwohl er sich sofort, als er den Stein¬
fall und den Schrei Goudet's vernahm, mit aller Kraft an
die Felsen geklammert hatte. Diese Annahme, dass Goudet
bereits in die Rinne hineintraversiert war, wird auch dadurch
bestätigt, dass Keidel mit so furchtbarer Gewalt weggerissen
wurde, dass man nur annehmen kann, Goudet habe beim
Weiterklettern das. Seil mit aufgenommen und sei dann, bis
das Seil gespannt war, schon über 10 m. hoch gestürzt. Ob der
lockere Block durch das darübergleitende Seil gelöst wurde,
oder ob Goudet das Seil zum Klettern benützen wollte und
auf diese Art infolge seines grossen Gewichtes den Block
herausriss, wird immer unaufgeklärt bleiben. Goudet fiel unten
auf eine kleine Geröllterrasse mit dem Rücken auf einen kopf-
grossen Stein und blieb liegen. Keidel flog über ihn hinaus
an den Rand dieser Terrasse, rollte abwärts, stürzte dann über
den Rand hinunter und blieb an dem Seile hängen, wodurch
er vor dem sicheren Tode gerettet wurde.

„Das Unglück war um 2 U. 5 nachmittags eingetreten. Wir
riefen zunächst Maischberger und Wessely zur schleunig¬
sten Rückkehr. Während Maischberger, Dr. Pfannl und
Dr. Wessely sofort zu unseren Kameraden abstiegen, blieb ich
an Ort und Stelle zurück, um je nach Bedarf entweder bei der
Heraufschaffung zu helfen, oder sofort nach Gstatterboden um
Hilfe hinabzueilen. Goudet hatte schwere innere Verletzungen
erlitten. Aeussere Verletzungen hatte er nur wenige und leichte.
Er wurde zunächst gelabt, sonst aber. konnte nichts gethan
werden, als ihn in eine etwas bessere Lage zu bringen, da er
bei jedem Versuche, ihm zu helfen, stöhnte. An einen Trans¬
port des Schwerverletzten war ohne ausgiebige Hilfsmittel nicht
zu denken. Er musste daher die Nacht an der Unglücksstelle
zubringen, und es blieb Freund Maischberger bei ihm oben.
Wir Hessen den Beiden unseren Proviant, Wasser und Röcke
zurück. Keidel hatte eine Kniewunde, am Kopfe zwei Löcher
und im Uebrigen zahlreiche, ausgedehnte Schürfungen, wunder¬
barerweise aber keinen Knochenbruch und keine inneren Ver¬
letzungen. Seine Wunden wurden rasch verbunden. Da er
mit Unterstützung klettern konnte, wurde er von Pfannl,
Wessely und mir bis zum Plateaurande gebracht, wo wir um
4 U. anlangten. Von dort eilte ich über die Pichelmayeralm,
von wo ich durch die Sennerinnen Decken, Milch und Wasser
auf das Plateau hinauftragen Hess, nach Gstatterboden voraus
und traf daselbst glücklicherweise die Herren Petermichel
und v. Radio (Mitglieder des Oe. A.-C), die mit dem Sonntag-
Aliendzug nach Wien fahren wollten. Nachdem ich sie kurz

unterrichtet hatte, übernahm Herr v. Radio die nothwendigen
Benachrichtigungen in Wien, während Herr Petermi chel sich
in selbstlosester Weise sofort bereit erklärte, auf den Buchstein
hinaufzugehen und beim Transport Keidel's Hilfe zu leisten;
er machte sich sofort auf den Weg.

„Mittlerweile hatte ich mir unter der nicht genug anzuer¬
kennenden Beihilfe des Hoteliers Bernhofer Proviant, Decken,
Laternen, Fackeln, eine Tragbahre und Seile verschafft. Nach
langem, schier endlosem Bemühen waren auch sechs Mann bei¬
sammen, so dass wir endlich um 7 U. 45 abends den Aufstieg
wieder antreten konnten. Um 9 U. abends waren wir auf der
Pichelmayeralm, wo ich von der Sennerin in der Nähe der
Hütten ein Feuer zur Orientierung für die Herabkommenden
entzünden Hess. Nach kurzer Rast wurde der Aufstieg fort¬
gesetzt, und bald darauf sah ich hoch oben in den Zerben das
Laternenlicht der im Abstiege befindlichen Gefährten. Um 12 U.
nachts trafen wir mit ihnen zusammen. Keidel hatte während
des ganzen, qualvollen Abstieges nur einmal gerastet, und sich
an der von den Sennerinnen hinaufgetragenen Milch erquickt.
Er wurde sodann bei Fackellicht bis an die untere Zerben-
grenze weitergebracht; dort, um 2 U. früh, blieben Pfannl
und Wessely mit dem Proviant, den Decken und drei Trägern
zurück, um zeitlich morgens zu Goudet und Maischberger
zurückzukehren, während Petermichel, ich und die anderen
drei Träger Keidel auf die Bahre betteten und mit ihm so¬
fort den Abstieg nach Gstatterboden antraten. Um 8 U. früh
langten wir daselbst an und konnten Keidel die Sorgfalt Bern¬
hof er's, sowie auch ärztliche Hilfe zu Theil werden lassen.
Hierauf schickte ich den mittlerweile von Bernhofer telegra¬
phisch berufenen Führer Zettelmayer mit vier neuen Trägern
und der nunmehr freigewordenen Bahre zum Transport Goudet's
sofort auf den Buchstein hinauf. Pfannl und Wessely hatten
den Aufstieg zu unseren oben gebliebenen Gefährten mit den
Trägern um 3 U. 30 früh angetreten. Am Plateaurande, wo
ich tagsvorher meine Freunde verlassen hatte, trafen sie
Maischberger, der ihnen die erschütternde Kunde mittheilte,
dass Goudet 2 St. nach dem Unglück verschieden sei... Maisch¬
berger war bis 7 U. abends bei dem todten Kameraden ge¬
blieben , dann auf das Plateau angestiegen und hatte dort
bivouakiert. Maischberger und. Pfannl stiegen zur Leiche
Goudet's ab und schnürten sie sorgfältig in Decken ein; von
den unter Leitung Wessely's oben gebliebenen Trägern wurde
die Leiche sodann mit den aneinandergeknoteten Seilen auf¬
gezogen, während Pfannl und Maischberger, nebenher klet¬
ternd, halfen. Nach dreistündiger, schwerer Arbeit war der
Plateaurand erreicht. Oben wurde dem Führer Zettelmayer
die Leitung des Weitertransportes der Leiche zum Eisenzieher
und nach St. Gallen übertragen. Goudet war bis zum letzten
Moment bei vollem Bewusstsein und ertrug seine schweren
Verwundungen mit bewunderungswürdiger Ruhe. Er verschied
in den Armen des bei ihm verbliebenen Freundes ohne Kampf
und Todesahnung. Meine Gefährten kamen um 3 U. in Gstatter¬
boden an. Mit dem 4 U. Zug wurde die Fahrt nach Wien an¬
getreten und Keidel im Wagen abends nach Hause gebracht.

„Die Frage, ob Jemand an dem Unfall durch Ausseracht-
lassen der gebotenen Vorsicht ein Verschulden trifft, muss ver¬
neint werden. Goudet's Verhängniss war es, dass er in die
Rinne hineintraversierte, während Keidel noch darin kletterte.
Wäre der Steinfall eingetreten, wenn Keidel oben gewesen
wäre, so hätte er Goudet unbedingt am Seile gehalten, und
wäre Goudet noch ausser der Rinne gewesen, so hätte der
abgehende Block für ihn überhaupt keine Gefahr bedeutet."

Wir können nicht umhin, diesem Berichte noch beizu¬
fügen, dass das Verhalten der Gefährten des Verunglückten
nicht nur wegen der wirklieh, aufopfernden Thätigkeit jedes
Einzelnen die grösste Anerkennung verdient, sondern dass auch
die Art und Weise, wie die Rettungs- und Bergungsarbeiten
eingeleitet und durchgeführt wurden, geradezu musterhaft ge¬
nannt werden müssen Die Schriftleitung.

Bei Wengernalp verunglückte der Berliner Kaufmann Gra¬
ser am 15. Juli vermuthlich durch einen Sturz in den Trümel-
bach.

Aus Turin wurde am 21. Juli gemeldet, dass von dem Monte
Bernardo (3220 m.) der Turiner Communalbeamte Occhieri,
der mit einem Gefährten den Anstieg versuchte, ca. 500 m. hoch
abgestürzt sei. Die Leiche wurde geborgen.